Kurz noch mal an Achim - stimmt, das mit dem "Programming" ist schon erstaunlich, wenn doch gar nicht mit Computer gearbeitet wurde - sei's drum: Ich bleibe dabei: Der Schlagzeug-Sound auf der CD hört sich für mich wie mein altes "Roland G 800" an - ob das nun ein Kompliment für diesen "Workstation"-Fabrikanten ist, oder eher Kritik an der Produktion Peter Wagners, kann nun jeder selber entscheiden:-))
Da ich aber wohl tatsächlich falsch lag mit der Einschätzung, es handele sich um einen Drum-Computer-Sound, gebe ich hier mal meine ausführliche Einschätzung der CD ab - sollten Euch weitere Fehler auffallen, wäre ich für einen Hinweis diesbezüglich dankbar.
"Der ganz normale Wahnsinn"
Selten waren sich die Fans bei einer neuen Produktion so einig wie bei diesem Album: Ein Meilenstein in Udo Jürgens' Karriere. Udo hat das beste Album seit vielen, vielen Jahren hingelegt - für mich ist es das mit ABSTAND beste Album des neuen Jahrhunderts. Auf der CD finden sich fast keine "Füll-Lieder", man hört unglaublich viele richtig starke Songs, die richtig Lust auf eine Live-Umsetzung machen - ich freue mich schon sehr auf die 2012er-Tournee.
Die Lieder sind durchweg abwechslungsreiche Kompositionen in gefälligen, teilweise sehr starken Arrangements. Einziger "Wermutstropfen" ist die Abmischung des Schlagzeugs. Mir wurde glaubhaft zugetragen, dass das Schlagzeug "live" eingespielt worden ist - nach meiner subjektiven(!) Wahrnehmung hört sich der Sound an, als hätten wir es mit einem Drum-Computer zu tun. Gerade der Name Peter Lübke bürgt für Schlagzeug-Qualität; insofern ist es mir unerklärlich, warum das Schlagzeug "irgendwie nach Roland Kaiser" klingt - aber das ist wie gesagt meine ganz subjektive Wahrnehmung; es gibt sicher Fans, die das anders sehen.
Ich fühle mich in meine Jugend zurückversetzt: Damals gab es Alben, bei denen mir vom ersten Hören an klar war, dass die Lieder mich ein Leben lang begleiten werden, weil sie so großartig sind - diese Alben der 80er Jahre stellen für mich den Höhepunkt von Udos Schaffen dar - und endlich hat Udo an diese Alben mal wieder angeknüpft.
Die letzten Alben ("Es lebe das Laster", "Jetzt oder nie" und insbesondere "Einfach ich") waren zwar "allgemein" immer noch auf hohem Niveau - aber für Udos Verhältnisse nicht mehr richtungsweisend. Anders verhält es sich mit diesem Album: Udo schafft einen musikalisch und inhaltlich großer Spannungsbogen, perfekte Arrangements - Fan-Herz, was willst Du mehr? :-) - zu den Liedern im Einzelnen:
Der ganz normale Wahnsinn
Der Song ist zurecht Titelsong der CD. Er hat mir schon bei der Solo-Tour ausgesprochen gut gefallen. Auch wenn die Schlagzeug-Abmischung und die Staccato-Rhythmus-Gitarren etwas stören, ist die Studio-Aufnahme doch besser gelungen als erwartet - die Bläser-Einwürfe in den Pausen der Strophe sind knackig. Den "Orgelpunkt" im Refrain auch von Streichern spielen zu lassen und überhaupt satt Streicher im Song einzusetzen, ist bei diesem nach vorne gehenden Stück ein für meine Begriffe genialer Einfall. Auch der Hintergrundchor ist genau richtig abgemischt. Das Salz in der Suppe ist ein geniales Streicher-Intermezzo, nach dessen Erklingen der hitverdächtige Titel noch mal richtig "aufdreht". Dass das Lied mit seinen ungewöhnlichen Tonartenwechseln musikalisch ein Knaller ist, habe ich schon im letzten Jahr festgestellt. Angesichts dessen, dass der Titel vor längerer Zeit geschrieben werde, hat er textlich eine erschreckende Aktualität. Daumen hoch! (Kleiner Hinweis: Schade, dass der Titel nicht auch als A-Seiten-Single veröffentlicht wurde - vielleicht hätte er sonst mehr Rundfunkeinsätze bekommen).
Liebe lebt
Bei diesem "Frauenlied" gefällt die großzügige Instrumentierung: Es sind fast schon sinfonische Klänge hörbar. Ich sehe schon vor dem geistigen Auge, wie Pepe der Querflöte liebliche Töne entlockt. Der Text reiht sich nahtlos in die Reihe der typischen Udo-Liebeslieder ein. Für mich ist der Song nicht der gaaaanz große Wurf - das kann aber auch schlicht daran liegen, dass ich das aus männlicher Perspektive sehe;-). Der Refrain erinnert mich übrigens in der Melodieführung etwas an den Udo-Klassiker "Flieg, Flamingo".
Wenn ein Lied so wär` wie Du
Für mich ist dieser Titel erneut ein echtes Highlight, ein jazziges Lied, bei dessen Produktion mich abermals die ewig gleich klingenden Gitarren stören, aber die Streicher genau so begeistern. Der Song fängt interessant mit einem Streicher-Intro im Stile eines Weihnachtsliedes ("White Christmas") an, um dann mit einem Groove der Marke des Udo-Klassikers "Keine war so wie Du" daherzukommen. Besonders gefallen mir die Soli im Stück (Saxophon, anschließend Bigband-Einwürfe). Auch die Text-Idee spricht mich sehr an - die Eigenschaften eines Liedes denen eines geliebten Menschen gegenüberzustellen- das ist eine gute Idee, die Udo musikalisch großartig umgesetzt hat. Wie so oft, verlässt Udo hier den üblichen Strophe-Refrain-Ablauf und schafft so in meinen Augen ein kleines musikalisches Meisterwerk. Besonders hat es mir der Schluss des Opus` angetan - nachdem das Lied auszuklingen scheint, dreht Udo zum Schluss noch mal richtig auf - großes Kino!
Dafür brauch ich Dich
Dies Lied sollte eigentlich noch auf die Weihnachts-CD gepresst werden

... - nein, auch hier handelt es sich um ein klassisches Liebeslied, das mich textlich an "Darum steh ich zu Dir" und "Wie könnt ich von Dir gehen" erinnert. Die Idee, erst einen weiblichen Background-Chor erklingen zu lassen, um den Refrain "bedeutender" klingen zu lassen, hatte Udo schon bei "Immer wieder geht die Sonne auf" - auch hier geht die Rechnung dieser Idee auf. Wir haben es wieder mit einem schönen streicherlastigen Arrangement zu tun. Dass Udo den Song bei "Wetten, dass..." live interpretiert hat, finde ich zwar toll - dennoch finde ich schade, dass er sich für Gottschalk nicht ein anderes Stück ausgesucht hat - zum Beispiel:
Du bist durchschaut
Für mich ist hier erst mal der textliche Einfall genial: "Du bist durchschaut" - da habe ich orakelt, dass das im Sinne von "Du bist ertappt" gemeint sei. Dem ist aber nicht so - hier geht es um die Nachteile moderner Technik, wenn die "Welt eine Google" ist, in der das Zuhause abgefilmt wird und man schön seine "Leberwerte bei Facebook" veröffentlichen kann. In dem Lied setzt sich Udo kritisch mit dem Internet auseinander - neuerdings scheint er sich dort ja angesichts seines Gästebuch-Eintrags auf seiner Fanseite hin und wieder zu "tummeln" - das macht den Song noch glaubwürdiger. Wenn Udo sich jetzt noch darum kümmert, seine eigene Internet-Präsenz hinsichtlich des Umgangs mit Kritik professioneller zu gestalten, dann... - aber das ist ein anderes Thema. Musikalisch fällt mir der Groove a la "Jeder so wie er mag" auf - und die Tatsache, dass Udo zum Mitsingen einlädt: "laaa laaa laaa laaa.." - das legt den Verdacht nahe, dass es als letztes Lied vor der Konzertpause ausgewählt werden könnte. Gott sei Dank würde Udo selber niemals "googeln"- sonst würde er noch womöglich auf diese Rezension stoßen und sich womöglich über meine Sichtweise der Schlagzeug-Abmischung ärgern -aber auch das ist ein anderes Thema....
Die Frau, die ich nie traf
Es ist positiv gemeint, wenn ich erneut die Streicher hervorhebe, die auch in diesem Lied sehr deutlich zum Einsatz kommen. Dieser Song wird die Kritiker eines meiner Lieblingslieder von "Einfach ich", nämlich "Letzte Ausfahrt Richtung Liebe", versöhnlich stimmen: Inhaltlich geht es in eine ähnliche Richtung, die Umsetzung ist aber weit romantischer geworden als in diesem Opus. Udo interpretiert ein weiteres Liebeslied, bei dem die Sehnsucht im Vordergrund steht.
Alles ist so easy
Bei diesem Titel handelt es sich wieder um eins von Udos witzigen Liedern. Auch wenn die Qualität von "Merry Christmas allerseits" hier nicht ganz erreicht wird, gefällt mir Udos Einsatz für die deutsche Sprache (Reinhard Meys Song "M(e)y English Song" ist auch leicht verwandt damit). Außerdem bin ich als Sido- und Buschido-Fan (Vorsicht Ironie!) natürlich begeistert, dass nun auch endlich Udo rappt. - Erneut fällt mir der gefällige Hintergrundgesang auf. Der Text ist angesichts Udos neuer offizieller Internet-Präsenz ("News", "Community" etc. - es wimmelt dort von Anglizismen) wenig glaubwürdig - insofern finde ich es erstaunlich, dass er ausgerechnet hier als Co-Texter genannt wird. Dennoch ist angesichts der ungewöhnlichen Produktion auch dieser Song hitverdächtig, wie ich finde.
Oktoberwind
Wer beim letzten Album "Mit Dir" geliebt hat, wird den "Oktoberwind" vergöttern - ich wiederhole mich: Die Streicher-Arrangements dieser CD sind wirklich toll - eine so Streicher-lastige CD habe ich von Udo noch nie gehört. Ich zitiere noch mal Reinhard Mey: "Ein Stück Musik von Hand gemacht" - auch die poetischen Worte ("ein paar Hunde streunen noch vor die Laternen - letzte Sonnenstrahlen locken vor die Tür..") heben sich vom Schlagereinerlei deutlich ab. Obwohl es mal wieder ein typisches Frauen-Lied ist, gefällt mir dieser Song über Udo im "Herbst seines Lebens" ausgesprochen gut.
Schenk mir einen Traum
Dieser Song ist für mich neben "Wenn ein Lied so wär` wie Du" D-A-S Highlight der CD: Immer, wenn Udo dem "Swinger-Club" beitritt, kommen da bombastisch tolle Songs bei raus (aus meiner subjektiven Sicht) - "Ladies and Gentlemen", "Danke für den Abend", "Champagner regnet vom Himmel", "Schenk mir noch eine Stunde" - all diese Knaller gehören zu meinen absoluten Lieblingsliedern. Schenk mir einen Traum" reiht sich nahtlos ein: Der typische Swing-Rhythmus, die Bläser, dazu einmal mehr der Gedanke, dass es die Träumer sind, die die Welt verändern - Herz, was willst Du mehr.... - ich ertappe mich dabei, dass ich die Streicher zwar interessant und toll finde - aber der Bigband-Sound im Stile Pepe Lienhards mich noch ein Stück mehr begeistert.
An diesem Song kann man erfahren, wie wichtig der Arrangeur bei einer CD-Produktion ist: Der in einer Sonder-Auflage enthaltene "Berlin-Mix" macht aus dem Lied einen sehr guten Song - aber in der "New York"-Version ist das Lied für mich Nachhilfe an alle Roger Ciceros dieser Welt - allein das sensationelle Intro finde ich Weltklasse. Erneut begeistern hier die großartigen Big-Band- und anschließend Saxophon-Improvisationen. Es kommt selten vor, dass schon die Studio-Aufnahme so stark ist, dass man sich fragt, wie Udo das live noch "toppen" will.. - wie ich aber Udo und das Pepe-Lienhard-Orchester kenne, wird der Song auch "live" eine Sensation...
Lass ein wenig Liebe da
Endlich - die lang ersehnte deutsche Version von "Leave a little love"... - nein, Scherz beiseite: Das Lied verstehe ich als Mann vielleicht nicht - nach dem gerade gehörten Highlight kann es bei mir gar nicht punkten - momentan kann ich mit dem Lied noch nichts anfangen. Es hätte mit Verlaub aus meiner Sicht besser auf "Einfach ich" gepasst - hüstel... Immerhin: Das Orgel-Intro ist musikalisch durchaus interessant.
Gegen den Wind
"Sei so wie Du willst - nicht wie alle sind. Wenn Du abheben willst, gehst Du gegen den Wind"... - Hammer!!! Die textliche Aussage ist sooo toll - ich will nicht nachtreten -aber sorry - kann man das, was man in Texten propagiert, nicht auch mal leben? ("kleiner Insider") - Aber ich will nicht abschweifen: Auch dieser Song ist ein absolutes Highlight. Der Gedanke, dass man sich von seinen Überzeugungen und Vorlieben leiten lassen sollte und Herzblut statt Kalkül walten lassen sollte, ist aus meiner Sicht zwar in "Alles, was gut tut" für mich unschlagbar gut umgesetzt - aber "Gegen den Wind" kommt gaaaanz nah an dieses totale Highlight ran. Wieder Bläser, wieder geiler Hintergrundchor -schon wieder: Dieses leidenschaftliche Plädoyer für die Individualität des Einzelnen führt zu restloser Begeisterung meinerseits... Schon in den Sechzigern war Udo der "Sänger mit dem langen i" - schön, dass Udo diese Tradition hier wieder aufleben lässt. Meine Lieblings-Textzeile ist übrigens: "So wie Ikarus war, er hat alles gewagt - und dann kam er zu nahe ans Licht. Doch er war an der Sonne - und die Anderen nicht!"
Gute Reise durch das Leben
Dieses Lied hat für mich einen ganz persönlichen "Gänsehaut"-Faktor - meine Tochter ist knapp zwei Jahre alt - und das, was Udo seinem Enkel auf den Weg gibt, wünsche ich auch meiner Tochter. Ich bin mir sicher: Mein Vater würde seiner Enkelin ähnliche Wünsche auf den Weg geben, wenn er noch leben würde - allein deswegen liebe ich dieses Lied und nehme zum Udo-Konzert vorsorglich eine Packung Tempo-Taschentücher mit. Der Song kann sich fast mit einem meiner absoluten Lieblingsliedern messen - aber "Mein größter Wunsch" ist immer noch eine kleine Spur emotionaler (für mich persönlich). Musikalisch gefällt mir das zwar einfach gehaltene, aber gerade deshalb so schön melancholische Piano-Solo.