"An die Preisverleihung erinnere ich mich gar nicht so gerne zurück"
1976 erhält Kunze als erster Deutscher den Grammy für R&B-Music. Der Preis steht heute in Hamburg in einem Regal mit vielen anderen Preisen wie dem "Echo" oder dem "Mann des Jahres". Wenn Kunze ihn in die Hand nimmt, dann glitzert es in seinen Augen jedoch nicht so wie in seinem Keller: "An die Preisverleihung erinnere ich mich gar nicht so gerne zurück, Sylvester und ich haben uns nicht wohlgefühlt." Zwei Weiße aus Deutschland räumen den Grammy für R&B ab, es muss wie ein Affront gewirkt haben. Kunzes Karriere jedoch dient der Grammy als endgültiger Turboantrieb: Noch mehr Stars (Julio Iglesias, Herbie Mann, Sister Sledge), noch mehr verkaufte Platten, noch mehr Aufträge.
Kunze zieht mit Roswitha und ihrem gemeinsamen Sohn in ein Appartement an der Upper East Side von New York, das die Familie heute noch besitzt. Blöd nur: Von seinen Hits bekommt Kunze nichts mit. Er sieht nicht, wie die Leute in den Clubs zu ihnen tanzen und feiern, denn der Liederschreiber und Produzent hat keine Freizeit mehr. "Eine einsame Arbeit", sagt Kunze. "Ich war Tag und Nacht im Studio." Es sei nur noch darum gegangen, das nächste Album rauszuhauen, den Leuten zu geben, was sie verlangen. Für seine eigentliche Arbeit, das Liederschreiben, muss sich der Songwriter manchmal in eine Besenkammer im Studio zurückziehen, um Ruhe zu haben. Kunze wollte nie Produzent werden, er wollte immer nur Geschichten erzählen, also zieht er die Notbremse. Kündigt über Nacht alle Verträge und erklärt, keine Schallplatten mehr produzieren zu wollen.
Er klinkt sich aus und schreibt eine juristische Dissertation, für die er ein rechtshistorisches Thema gewählt hat: "Der Prozess Pappenheimer" handelt von einem Hexenprozess aus dem Jahre 1600, und Kunze zeigt darin die Fragwürdigkeit scheinbar rechtmäßiger Positionen auf. Natürlich erhält der Verfasser ein "summa cum laude". Muss seltsam sein, wenn einem immer alles gelingt, aber für Kunze stellt es nur "ganz normale Arbeit" dar.
Auch sein Roman "Straße ins Feuer" wird ein Bestseller. Als nächstes will er ein Buch über Rudolf von Jhering schreiben, einen Rechtswissenschaftler des 19. Jahrhunderts. "An der Geschichte interessiert mich immer nur der Mensch", sagt Kunze. Was ihn antreibt, welche Wirkungen seine Taten haben. "Wenn jemand Courage zeigt und etwas Neues wagt, dann bin ich fasziniert."
Vor diesem Hintergrund entstand das Projekt "Luther". Zusammen mit dem Produzenten Dieter Falk und der Stiftung Creative Kirche hat Michael Kunze ein Pop-Oratorium geschaffen (im Unterschied zu einem Musical handelt es sich hierbei um eine Mischung aus Konzert und Bühnenstück), das zum 500. Jahrestag der Reformation 2017 durch Deutschland touren wird. Seine Uraufführung hat es allerdings schon an diesem Wochenende in Dortmund.
Michael Kunze scheint bislang kaum aufgeregt, seine Premieren kann er längst nicht mehr zählen. Man merkt ihm nur an, dass die Person Luther es ihm angetan hat. Dabei gehört Kunze nicht mal der Kirche an: "Luther war ein Störenfried, aber unsere Gesellschaft braucht solche Störenfriede. Wir neigen dazu, uns der Mehrheitsmeinung anzupassen, aber Luther hat uns beigebracht, selber zu denken, notfalls gegen alle Widerstände."
Jedes Bühnenstück wird bis ins kleinste Detail vom Story-Architekten geplant
Als Texter verehrt er den Mönch auch dafür, dass er die deutsche Sprache so geprägt hat. Ohne ihn gäbe es viele Worte gar nicht. Doch der Reformator hatte auch seine Schattenseiten. "Jeder Mensch hat irgendwas falsch gemacht in seinem Leben – wir sollten ihn aber danach beurteilen, was er richtig gemacht hat," findet Kunze.
Man fragt sich, ob der Librettist selbst je einen Fehler begangen hat, höchstens mal bei Rot über die Ampel wahrscheinlich. Wie er so in seinem Arbeitszimmer steht und anhand zweier großer Flipcharts den Aufbau seiner Stücke erklärt, das hat schon etwas Virtuoses. Man versteht nun auch, warum sich Michael Kunze als Story-Architekt bezeichnet. Die drei Akte, die Dramaturgie, die Dialoge – alles bis ins kleinste Detail durchkomponiert. Gold entsteht nicht zufällig.
Kunzes Büro befindet sich anders als seine Goldene Schallplatten-Sammlung nicht ganz unten, sondern ganz oben im Haus. Großer Raum, blauer Teppich, ein Kamin in der Mitte des Raumes, vor dem sich der nette Hund niederlässt. Über dem Klavier hängen Originalbriefe von Stefan Zweig, Thomas Mann und Oscar Hammerstein. Von seinem großen Holzschreibtisch aus blickt Michael Kunze auf ein gerahmtes Autogramm von Elvis Presley, auf Fotos seiner Eltern und eines von Abraham Lincoln: "Ihn verehre ich. Das war ein guter Mensch, findet man selten unter Politikern."
Erst oben vom Büro aus hat man einen Überblick über den riesigen Garten. Hätte man selbst einen solchen Rasen, würde man den ganzen Tag spazierengehen oder sich überlegen, doch noch mit dem Golfen zu beginnen. Ein Springbrunnen plätschert. Kein Wunder, dass Kunze und seine Frau 2003 nach Hamburg gezogen sind. Hier lässt sich besser entspannen als in jedem Kurort. Aber nein! Protest vom Fleißigen, von dem, der niemals Urlaub macht, weil seine Arbeit doch sein Hobby ist. "Ich bin gerade deshalb nach Hamburg gezogen, weil ich hier besser arbeiten kann. München war mir zu gemütlich geworden," sagt Kunze.
Bei einem beruflichen Termin in Hamburg hatte er im Hamburger Abendblatt eine Anzeige für das Haus hier entdeckt. Eigentlich wollte er sich verschiedene Objekte angucken, aber als Roswitha die Villa in Poppenbüttel zum ersten Mal betrat, sagte sie gleich: "Die nehmen wir." Direkt zum Makler. "Das war es dann mit dem Verhandeln", sagt Kunze und lacht. Die Entscheidung hat er nie bereut. Das Haus sei mit guten Geistern gesegnet, und an das Hamburger Wetter habe er sich inzwischen auch gewöhnt.
Verwunderlich und ein wenig provinziell findet er nur, dass die Medien hier immer von der schönsten Stadt der Welt sprächen: "Hamburg hätte es nicht nötig, sich zu vergleichen, und so etwas wie die schönste Stadt der Welt, das gibt es einfach nicht." Immerhin gilt Hamburg als die deutsche Musicalhauptstadt, und ihr Einwohner Kunze als der Erschaffer einer neuen europäischen Form des populären Musiktheaters, dem Drama-Musical. Insofern passen die beiden gut zusammen.